Moden sind verstofflichter Zeitgeist, eine gesellschaftliche Übereinkunft, etwas in bestimmter Weise zu handhaben. Und gleichzeitig die eben etablierten Regeln durch Provokation zu verwerfen.

Verdis Oper Rigoletto startet als zweifache Revolution. Formal steht nicht der hehre Heldenherscher sondern ein hässlicher Hanswurst im Spot des Bühnenscheinwerfers. Nicht Haute Couture wird hier verhandelt, sondern die Leiden der Modeindustrie auf Kaufhausebene. Inhaltlich soll der König verflucht und umgebracht werden, 1851 unter Habsburger Zensur undenkbar und im Theater unspielbar. So erhält die Oper La Maledizione (Der Fluch) den geglätteten Titel Rigoletto, und aus dem französischen König (Franz I.) wird ein Herzog von Mantua, Sprössling einer längst ausgestorbenen und daher nicht mehr klagefähigen italienischen Adelslinie.

Die Oper ist von Beginn an ein Erfolg. Und wie bei Operninszenierungen nicht unüblich – steigert sich der Mut zur zeitgenössischen Adaption in dem Maße wie sich die Jahre nach Verdis Tod anhäufen. Mein persönlicher Eindruck dabei ist, dass die Übersetzung des Hoftreibens eine immer schrillere Bildsprache hervorbrachte: der Hofstaat als Pinguinkolonie (Hamburg in den 90ern), als religiöses Machtgefüge (2022 Frankfurt a.M.), als innerer Monolog in Rigolettos Kopf (Bregenz 2019). Und nun: Rigoletto in Freiberg! Man durfte gespannt sein, was das junge österreichische Frauenduo Juana Inés Cano Restrepo (Regie) und Lena Weikhard (Ausstattung) auf die Bühne zaubern würde.

Und was soll ich sagen? Sie haben gezaubert! Ihr Schlüssel ist nicht die Suche im Extremen sondern der souveräne Rückgriff auf Text und Musik. Und auf kleine wirkungsmächtige Details in einer Atmosphäre stilsicherer Klarheit. Schon die Ouvertüre überrascht. Wo sonst der Vorhang noch geschlossen bleibt, verortet Restrepo das Thema des Fluches (denn das wird ja gerade vom Orchester gespielt) schon viel früher in Rigolettos Leben, als nämlich seine Frau stirbt und ihn mit der kleinen Tochter Gilda zurücklässt. Minimalistisch und stilisiert werden hier in wenigen Sekunden verknüpft: der Fluch, Dunkelheit, die Farbe blau, c-Moll und Rigoletto. Dann kommt schon der Herzog, um von seinen nächtlichen Streifzügen zu berichten. Offensichtlich war er nicht als er selbst unterwegs, er trägt Grau-Grün. Wer genau hinsieht, erkennt seinen Status an den roten Socken. Das ist witzig und öffnet einen Assoziationsraum zwischen roten Papstschuhen und Louboutins. Die Höflinge tauchen auf, kleiden den Herzog an und stecken ihn in die ihm zugedachte Rolle. 

Weikhard übersetzt den gelangweilten Exhibitionismus des Hofstaates sehr modern in ein aggressives Rot, gespreizte Unterrockskelette, Korsagen, durchsichtige Hemden und zitiert damit die 1980er und frühen 90er Jahre. Wir denken an David Bowie und Catherine Deneuve, die als sexuell hungriges und blutsaugendes Vampirpaar das Nachtleben der Großstadt aufmischen (Film Begierde, 1983). An Madonna und ihre inszenierten Bühnen-Sex-Skandale im Jean-Paul-Gaultier-Trichter-BH. Die 80er sind perfekt gewählt. Die sexuelle Revolution der 70er war inzwischen erwachsen, kommerziell und zunehmend hohl. Gelebter Exzess mit aufgeplusterten Haaren und üppigen Schulterpolstern, bevor HIV den Spaß beendete.

Demgegenüber steht Gilda in ihrem blauen (braven) 50er Jahre Tellerrock mit Bubikragenpullover. Dieses Outfit tauscht sie sehr früh im Stück gegen eine legere Latzhose. Das ist ein Hinweis von vielen, wie sehr der Regisseurin die Entwicklung Gildas am Herzen liegt. In dieser Inszenierung verbleiben die Männer in ihren definierten Rollen, Rigoletto gehorcht der Rachsucht, der Herzog wird von Vergnügungssucht getrieben. Gilda entwickelt sich vom Mädchen zur Frau und trifft am Ende eine erwachsene Entscheidung… 

Ermutigt wird sie dabei (und das ist ein Rückgriff auf das Libretto) von zwei weiß gewandeten Kinder-Engeln, dem Gegenstück zu den ebenso weißen Engeln des Todes Sparafucile und Maddalena.

Rigoletto in Shorts und seine Tochter Gilda im blauen Kleid vor ihrem Garten.

Unter der musikalischen Leitung von Attilio Tomasello, der das große Orchester und die Sänger umsichtig zu dirigieren weiß, darf das Publikum von Anfang an in Emotionen baden. Die Begeisterung steigert sich im Laufe des Abends derart, dass irgendwann nach jeder Arie Szenenapplaus durch das Theater hallt, zum Schluss gibt’s stehende Ovationen und mehrere Vorhänge.

Das umfangreiche Orchester erzwingt eine weite Öffnung des Orchestergrabens, wodurch die Bühne an Raum verliert. Das kluge Bühnenbild kaschiert dies gekonnt. Zwei große bewegliche Spiegelwände umschließen kleine ausweglose Räume, in denen die Protagonisten gefangen sind. Gilda im Garten voller blauer! Blumen, der Herzog in einer roten und mit Silber vollgestopften Kammer. Der Kindskopf hat sogar ein silbernes Schaukelpferd!

Gesanglich ist Rigoletto eine Herausforderung. Verdi verlangt den Sängern einiges ab, und der geneigte Opernfan kennt die Schlager in verschiedenen Versionen von Maria Callas, Edita Gruberova, Luciano Pavarotti und eben aus der Pizza-Werbung. Alle, wirklich alle, haben zur Premiere abgeliefert. Clemens Kerschbaumer (Herzog) klang für meine Ohren am gefälligsten. Er hatte die hohen Töne mühelos und lag mit seiner Intensität zwischen der anfangs zurückhaltenden Lindsay Funchal (Gilda) und Beomseok Choi (Rigoletto), dessen virtuose Wucht wahrscheinlich auch noch in der Nikolaikirche nebenan zu hören war. Ganz im Sinne der Inszenierung gewann Gilda im zweiten Teil des Abends auch stimmlich an Souveränität.

Moden sind verstofflichter Zeitgeist. Rigoletto in Freiberg setzt dezent Gilda in den Mittelpunkt. Man kann die Aufführung als Beitrag zur feministischen Debatte verstehen. Oder aber man lässt sich von einem rundum modernen Gesamtkunstwerk bezaubern.

Fotos: Mittelsächsisches Theater, Detlev Müller

Rigoletto liegt im blauen Umhang inmitten des rot gekleideten Hofstaates.
Gildas Mutter kniet mit zwei Kindern, den Engeln der Liebe, vor Gildas Garten.

Jeder kennt die Werbung, in denen gut aussehende Männer „La donna è mobile“ singend einen romantischen Abend durch das Aufwärmen von Tiefkühl-Pizza einzuleiten versuchen (Aber das ist ein anderes Thema!). Wovon handelt Rigoletto tatsächlich?

Hier eine kurze Zusammenfassung: Rigoletto verdient seinen Unterhalt als Spaßmacher am herzoglichen Hof von Mantua. Wir befinden uns im 16. Jahrhundert. Die Späße sind eher unspaßiger Natur und gelten selbstverständlich niemals dem herzoglichen Lebemann sondern immer der Staffage. Und so trifft der Spott den Grafen von Monterone, dessen Tochter eben vom Herzog um ihren guten Ruf gebracht wurde. Monterone versieht daraufhin den Herzog UND Rigoletto mit einem Fluch. Der Herzog zeigt sich unbeeindruckt, aber Rigoletto wird ängstlich und setzt etwas in Gang, was die moderne Psychologie „selbsterfüllende Prophezeiung“ nennt. Unter allen Umständen will Rigoletto seine anmutige Tochter Gilda vor dem Herzog beschützen. Er weiß nicht, dass Gilda sich bereits in einen Studenten verliebt hat, der -und das ist mal wieder ein echter Opern-Move-  kein Student, sondern natürlich der verkleidete Herzog ist. Auftritt Sparafucile: Er ist Gastwirt und im Nebenerwerb Auftragsmörder, wobei sich die Professionen gegenseitig befruchten. Sparafucile also macht Rigoletto mit seinem Portfolio bekannt. Die Höflinge langweilen sich derweil entsetzlich und beschließen, dass diesmal Rigoletto das Opfer eines ihrer Streiche werden soll. Sie wollen in Unkenntnis seiner Vaterschaft die junge „Geliebte“ des Hofnarren entführen und lassen Rigoletto selbst an der Entführung mitwirken. 

Vater und Tochter sehen sich später im Palast wieder, wo Gilda ihre Liebe zum Herzog offenbart. Da drehen bei Rigoletto die Sicherungen durch, und er erinnert sich an Sparafucile. Der Mord am Herzog wird beauftragt. Allerdings ist auch Sparafuciles Schwester dem Herzog gewogen und überredet ihren Bruder, ihn zu verschonen. Und so soll der nächstbeste Kneipengast in den Leichensack gesteckt und Rigoletto übergeben werden. Gilda – eigentlich zu ihrem eigenen Schutz in Männerkleider gesteckt – sucht zu später Stunde das Gasthaus auf, und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Alle regulären Vorstellungen ausverkauft! Das Theater ermöglicht eine Zusatzaufführung am Pfingstsonntag, den 28. Mai, 19:30 Uhr!