Die Videoinstallation stammte von Nikola Zavisic und Filip Mikic
O Fortuna! Schicksal, wie der Mond dort oben, so veränderlich bist du.
So beginnen die erste und die letze Strophe der von Carl Orff vertonten Liedersammlung aus dem Benediktbeurer Kloster, einer zwischen 1220 und 1250 wahrscheinlich in der Steiermark entstandenen Handschrift, die Andreas Schmeller 1847 herausgegeben hatte. Und die 1934 als bedeutendste Sammlung mittellateinischer und mittelhochdeutscher lyrischer Dichtung in Form eines Würzburger Antiquariatskataloges Carl Orff in die Hände fiel. Vom Frühjahr 1935 bis August 1936 entstand daraus eine szenische Kantate, die inzwischen aus Musik- und Filmgeschichte, Werbung oder Boxsport-Intros nicht mehr wegzudenken ist.
Überall wo man eine musikalische Urgewalt braucht, liefern die Carmina Burana die gern und verschwenderisch eingesetzte Tonspur.
Auch in den Freiberger Sommernächten ist man mit einem so populären wie klanggewaltigen Programmpunkt auf der sicheren Seite. Kulturell gesehen. Wettertechnisch eher nicht. Die Extremwetterwarnung für das Wochenende stellte die Veranstalter vor die Wahl: mittelalterliches Open-Air-Ambiente mit Wasserschäden an Instrument und Frisur oder Umzug ins bürgerliche Ball- und Konzerthaus der Stadt, quasi das physikalische Gegenteil von Open Air.
Die drei Chöre standen seitlich und im Rücken des Maestro.
Das Publikum im Tivoli feierte die gelöste Stimmung zur Premiere am 1. Juni mit Getränkekonsum, der dem besungenen Mittelalter in nichts nachstand, und atmete flach. Für den Chor bedeutete die Verlegung Hypoxie-Training. Die ohnehin stimmlich anspruchsvollen Gesänge (hoch; laut; anhaltend; Einstimmigkeit, die keine Fehler verzeiht) wurden zum Kraftakt.
Weshalb hier ein Loblied auf das Ensemble gesungen werden soll.
- Chor: Der MiT-Chor erhielt Unterstützung vom Freiberger Stadtchor und der Singakademie Chemnitz. Zahlenmäßig überwogen also Laiensänger, deren Mut und Enthusiasmus nicht genug gewürdigt werden kann. Ohne sie wäre eine solche Veranstaltung nicht denkbar gewesen.
- Orchester: Die Mittelsächsische Philharmonie ist ein eingespieltes Profiteam, das zur Not auch ohne Dirigenten auskommt. Die starke erste Geige führt, wenn der Chef Unterstützung braucht.
- Der Dirigent: Attilio Tomasello. Dem Freiberger Publikum als Meister seines Tuns bekannt, stand er vor der übermenschlichen Aufgabe, drei Chöre in seinem Rücken und das Orchester durch die Partitur zu bringen. Obwohl sein legeres Outfit (Hemd, kein Sakko, geschweige denn Frack) sommerliche Jahrmarktstimmung demonstrierte, lieferte er professionelle Schwerstarbeit ab. Jeden Choreinsatz, jede Betonung, jedes möglichst präzise Wortende dirigierte er mit Hand und Fuß und Körperspannung. Und ab und zu überließ er das Orchester dem ersten Geiger und trieb, bündelte und führte die Chorstimmen mit beiden Händen und eigenem Gesang.
- Die Solisten: Beomseok Choi überzeugte mit lyrischen und hohen Tönen zum Frühling so souverän wie mit derben Trinkliedern in unterer Stimmlage. Genuss pur. Inkyu Park gab den gebratenen Schwan, der sein Leid aus Pfannenperspektive in hohen Quiektönen beklagt. Die außergewöhnlich heikle Stimmlage (3 mal hohes C) mit Sinn für das Absurde gemeistert! Lidija Horvat-Dunjko, der Gast-Sopran, ist offenbar ein Allround-Talent. Sie ist Musikprofessorin, Eurovision-Song-Contest-Teilnehmerin und Königin der Nacht. Und ließ sowohl die getragenen (Auf der Waage meines Herzens) als auch die mädchenhaften (Amors Pfeile überall) Tonfolgen mühelos durch das Tivoli perlen. Bravo!
Die Solisten beim Schlussapplaus.
Noch einige Gedanken zur Videoprojektion von Nikola Zavisic und Filip Mikic. Etwas visuelles Beiwerk steigert ja meist den Unterhaltungswert und fügt bestenfalls noch Bedeutungsebenen hinzu. Das Rad der Fortuna, ein Zwischending aus Horoskop und Kompass, grenzte die einzelnen Stücke voneinander ab. Dazwischen war ein Morphingprogramm am Werk, das offenbar mit dem Liedtext gefüttert worden war und eine prachtvolle Demonstration dessen ablieferte, was KI alles NICHT kann. Die Grundidee, Bilder aus Natur und jungen Frauen zu verschmelzen und mit Anregungen jedes Kontinents zu würzen hatte etwas weltumspannendes. Die tatsächliche Ausführung produzierte teils belanglose, teils verstörende Bilder ohne Mehrwert. Wenn schon Technik-Freaks am Werk sind, dann bitteschön nicht nur um der Technik willen.
Aber das experimentelle Visuelle konnte der erfolgreichsten Komposition des zeitgenössischen Musiktheaters nichts anhaben. Und wer weiß? In ein paar Jahren gibt man zu Hause in seinen KI-Generator ein: Carmina Burana, Schloss Freudenstein und Silberstadtchor. Und während das Programm rechnet, sieht man auf dem Smartphone nach, welche Getränke noch im Kühlschrank stehen.
O Fortuna! Schicksal, wie der Mond dort oben, so veränderlich bist du.
Das Rad der Fortuna. / alle Fotos: Elke Hussel