Milon Goetz, Cornelia Wöß, Joschka Spitzer und Michael Berger als Spielfiguren in der Freiberger BiB, Foto: Elke Hussel

Ein präzise agierendes Schauspielerquartett machte einen philosophischen Abend zum Kunstgenuß

Samstagabend, 22. Februar 2025, Freiberger BiB.

Zur Verhandlung über den Zeitgeist nahm das Publikum um halb acht die Plätze der Geschworenen ein. Kein Stuhl blieb leer. Alle hatten in Erwartung eines ehrwürdigen Abends ihre Kleider mit Bedacht gewählt und blieben 100 Minuten lang – ohne Pause – in ihrer Rolle, um sich am Ende ein Urteil bilden zu können. Als Erster betrat Milon Goetz alias Alev die Bühne. Natürlich. Alev ist nicht nur ein Vorname mit der Bedeutung „Erstgeborener“, sondern auch der erste Buchstabe im arabischen Alphabet. Es folgte die Richterin (Juschka Spitzer), die das Urteil sprach. Die Geschichte wurde damit vom Ende her erzählt und als Verhandlungssimulation mit Publikum angelegt. Dann lief Ada (Cornelia Wöß) ihre Turnhallenrunden zu elegisch – orientalischem Blues. „Me and the Devil“ von Soap&Skin, der Musikerin und Schauspielerin Anja Plaschg aus Österreich. „Heute Morgen, als du an meine Tür klopftest … hallo Satan … der Teufel und ich liefen Seite an Seite“. Mit der Urteilsverkündung erfuhr das Publikum schon von Alevs äußerlichem Zustand: Schädelbruch, Zahnverlust und: Eine gespaltene Zunge! Wer denkt da nicht an die Schlange im Paradies? Zumal ein grüner „Golden Delicious“ sich zum „Red Delicious“ steigerte, um als an der Wand zerschmetterte Liebesfrucht zu enden. Während Ada also ihre Runden zieht, lehnt Smutek (Michael Berger) als polnischer Sport- und Deutschlehrer der traurigen Gestalt mit eingezogenen Schultern an der Wand. Ada heißt natürlich nicht zufällig nach der Hauptfigur in Nabokovs längstem Roman. Nabokov führt uns direkt in die philosophischen Vibes des Abends. Smutek will auf Klassenfahrt nach Wien, ins Fin de Siècle. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist Deutschlektüre im Leistungskurs und steht für die nihilistische Grundausrichtung der jungen Generation. Die Frage des Abends lautete: Was kommt nach dem Ende eines Wertekanons? Bleibt tatsächlich nur der Spieltrieb als Motivation jeden Handelns? Gegen Spielen ist ja nichts zu sagen, so erkunden Menschen ihre Welt. Wenn die Ära von Zinnsoldaten, Puppenhäusern und Computerspielen ausgespielt ist, und die Lehrer selbst nicht mehr an die Normen glauben, die sie einst vermitteln sollten, dann taugen sie immerhin noch als Spielfiguren in jugendlich erdachten Versuchsanordnungen. Natürlich schimmert hier Juli Zeh durch, deren juristisch geschulter Verstand gern Gegensätze aufeinanderprallen lässt. Schon das Setting entbehrt ja nicht der Ironie. Ausgerechnet die Lehranstalt, die vom „normalen“ Schulsystem aussortierte Schüler aufnimmt und damit ordentlich verdient, trägt den Namen des Neomarxisten Ernst Bloch. Die Schule ist ein Konglomerat der Gestrauchelten, Gefallenen, der Außenseiter, Lehrpersonal eingeschlossen.

Diese Düsternis auf die Bühne zu bringen, gelang dem Schauspielquartett grandios. In Spielfilmlänge und präziser Sprache entwarfen die vier eine Dystopie und widerlegten sie sogleich mit ihrem ambitionierten Spiel. Cornelia Wöß als hochbegabte Ada ließ in verletzlichen Momenten Gefühle durchbrechen, Juschka Spitzer lieh Richterin und Geschichtslehrerin eine scharfe Zunge und ein großes Herz. Michael Berger zelebrierte die Verwandlung von Smutek (polnisch: Traurigkeit) zu einem aufrechten Mann mit Zukunft, und der heimliche Star des Abends, Milon Goetz, gab den außerhalb jeder Begrifflichkeit stehenden Alev mit so viel mephistophelischer Spielfreude, dass man dem Teufel nicht böse sein wollte. Der Abend feierte das Theater. Die kleine Bühne und die begrenzte Zuschauerzahl schufen eine Intimität zwischen Wissenden. 

Das Urteil lautet: Brilliante Romanvorlage von Juli Zeh. Geglückte Bühnenadaption von Laura Linnenbaum und Johanna Vater. Geniale Besetzung auf der Freiberger Bühne. Anspruchsvolle Handwerkskunst in intimer Atmosphäre. Ein Lob dem Publikum. Und Erleichterung über den hoffnungsvollen Ausgang. Die Performance der Spielfiguren hatte so gar nichts Nihilistisches.