Der Aufstieg ins Leben beginnt 11 km unter dem Meeresspiegel.
Die Premiere des Freiberger „Marianengraben“ wagt Tiefe – und bleibt doch in ruhigen Gewässern
Der Marianengraben ist das Abgründigste und Dunkelste, was die Erdgeografie zu bieten hat. Die Bühnenfassung des Schauspiels nach der Romanvorlage von Jasmin Schreiber versucht genau diesen Druck der Tiefe sichtbar zu machen – und trifft dafür faszinierende, aber auch irritierende Entscheidungen.
Paula, 24, und Helmut, der ihr Großvater sein könnte, treffen sich zufällig nachts auf dem Friedhof. Paula trauert um ihren ertrunkenden jüngeren Bruder Tim, Helmut hat gerade seine Frau Helga verloren. Es beginnt eine gemeinsame Reise.
Paula „lebt“ nach dem Tod ihres Bruders in einem Zustand, der sich wie Tiefseephysik lesen lässt: extremer Druck, wenig Sicht, kaum Sauerstoff. Nele Schweers spielt die 24-Jährige, gesteckt in ein Pippi-Langstrumpf-Kostüm: Ringel, Zöpfe, ein Hauch Trotz. Psychologisch wäre das als traumabedingte Regression plausibel – ein Rückzug in die Kindheit, um nicht zu zerbrechen. Doch diese Idee bleibt ein Fragment. Wenn man schon so stark symbolisiert, müsste die Figur dann nicht über den Abend hinweg eine Transformation durchlaufen? Schweers spielt mit Energie, Tempo und gut gesetzten Brüchen, aber der Kostümimpuls führt in eine Richtung, der das Stück nicht konsequent folgt.
Michael Berger als Helmut bringt Ruhe ins Geschehen. Ockertöne, erdige Schlichtheit. Die Farbgebung kratzt an Altersstereotypen. Seine Figur ist im Roman bereits funktional angelegt, hier wird sie durch starke Textkürzungen weiter verdichtet. Berger darf weniger erzählen, weniger differenzieren, weniger atmen. Das nimmt der Figur Ambivalenz und verschenkt Potenzial. Helmut gleicht einem Leuchtturm, dessen Strahl im Regienebel gefangen bleibt: Er könnte ferne Küsten erhellen, doch sein Licht wird immer wieder gedämpft.
Als klugen Kunstgriff stellt die Inszenierung Tim, den verstorbenen Bruder, auf die Bühne. Peter Peniaška zeigt ihn als erwachsenen Mann in maritimer Kinderkleidung – eine Figur, die zwischen Erinnerung, Sehnsucht und Projektionsfläche schwebt. Er wird zum Adressaten der inneren Monologe.
Emery Escher glänzt unprätentiös in vier Nebenrollen und zeigt, wie man mit minimalen Mitteln Figuren schärft. Juschka Spitzer leiht Paulas Mutter eine warme Telefonstimme – ein kleiner, aber präziser Stich ins Herz.
Die Ausstattung von Barbara B. Blaschke arbeitet mit bewusst gesetzten Leerräumen. Viel Weiß, viel Angedeutetes. Tod und Sterben sind ja zutiefst individuelle Themen. Die Inszenierung respektiert diese Intimsphäre, indem sie dem Publikum Leerstellen anbietet – Projektionsflächen, die jeder füllen kann, je nach eigener Lebenssituation. Wer gerade Abschied erlebt hat, findet hier ein Echo. Wer Abstand braucht, darf ihn haben. Diese Offenheit macht die Bühne zu einem Resonanzraum. Den Rahmen dafür geben zwei Wohnmobilhälften, je eine für Paula und Helmut. Sie gleiten über die Bühne, rücken zusammen, driften auseinander, stehen für einen kurzen Moment parallel – ein treffendes Bild für ihre Beziehung. Während sich die Wagen wieder öffnen und in entgegengesetzte Richtungen zeigen, spiegeln sie die Entwicklung der Figuren: Helmut geht trotz Sauerstoffgerät die Luft aus. Paula hyperventiliert – zu viel Atem, zu viel Druck.
Unterstützt wird der Abend durch die gezeichneten Projektionen von Matthias Holländer: mal Kinderzimmer, mal Haustier, später fernes Bergpanorama. Es sind leichte Linien, die mit überraschender Zartheit ganze Räume eröffnen.
Doch all die kleinen Leuchttürme – die Pippi-Symbolik, Tims Präsenz, die wandernden Wohnmobile – senden ihre Signale in unterschiedliche Richtungen, statt sich zu einem gemeinsamen Lichtband zu bündeln. Wo ist die Strömung, die diese Fragmente zu einem Ganzen zieht?
Im Programmheft betont der Regisseur Stephan Bestier Vertrauen als Prinzip – ein sympathischer, moderner Ansatz. Ja, man spürt die Harmonie. Ja, das Publikum freut sich über sichtbaren Teamgeist. Die Frage bleibt, ob Moderation eine Handschrift schafft.
Ohne Zweifel berührte der Abend. Weil das Material berührt. Doch welche Geschichte erzählt die Freiberger Aufführung?
Es zeugt von Mut, mit dem „Marianengraben“ das Thema Trauer auf die Bühne zu holen. Der Abend suchte das Verbindende, setzte leise Impulse, sich dem Thema Tod zu stellen. Ein behutsamer Einstieg in ein abgründiges Thema. Tiefsee light. Ein Abend, der nicht kentert, weil er sich als Einladung versteht.
Fotos: Elke Hussel
Emery Escher, Michael Berger, Nele Schweers, Peter Peniaška

