Summary: Evangélion bedeutet frohe Botschaft/gute Nachricht. DIE Geschichte des Abendlandes wurde am Ostermontag in der Freiberger Nikolaikirche froh und gut erzählt. Voller Spielfreude, Kreativität, mit unglaublichem Stimmumfang und einer musikalischen Leitung, die alles souverän zusammenhielt.

Alexander Donesch gehört erst seit dieser Spielzeit (22/23) zum festen Ensemble des MiT und stellt mit JCS sein Regiedebüt vor.
Als in Kärnten geborener Musicaldarsteller ist er vermutlich doppelt gerüstet für ein solches Wagnis; christliche Symbolik scheint ihm vertrauter zu sein als dem Publikum, und das Initialstück DES Musical-Gotts Andrew Lloyd Webber auf die Bühne zu bringen, beweist Furchtlosigkeit.

Was mich am meisten beeindruckt, ist die fragende Leichtigkeit, mit der ein solch aufgeladener Stoff in der religiösen Diaspora umgesetzt wird. Die Regie gibt Denkanstöße, zieht mehrere symbolische Ebenen ein, will aber niemals belehren, sondern immer unterhalten.

Schon die Rahmenhandlung finde ich wirklich schlau: Die vier Evangelisten erzählen ihre Version der Passionsgeschichte. Immer wenn diese zu entgleiten droht, greifen sie bestimmend und durch ihre eigene Wahrheit legitimiert in die Handlung ein. Das ist eine echte Volte, denn die Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes unterscheiden sich in Entstehungszeit und Schwerpunktsetzung ihrer Story, sind also keineswegs gleichschwingende Erzählungen. Die Gestalten auf der Bühne erinnern in ihren weißen Monturen an Klonkrieger, also von einer höheren Macht geschaffene willenlose Soldaten, andererseits setzen sie sich zur Unterscheidung weiße Masken auf: Löwe, Stier, Adler und Menschengesicht. Wobei sich die Kirchenväter zwischen 200 und 800 n.Chr. darüber stritten, welches Tier zu welchem Evangelisten gehört. Man darf also fragen, wessen Geschichte hier eigentlich erzählt wird. Und weil es darauf offensichtlich keine Antwort geben kann, bringt Alexander Donesch souverän seine Version zur Aufführung.

So wird denn auch „Was ist Wahrheit?“ in Buchstabensalat auf den Theatervorhang projiziert. Das Wichtigste an dieser Frage aus dem Johannes-Evangelium ist für mich das Fragezeichen. Auch später im Stück – Jesus ist bereits am Kreuz gestorben – läuft als nach hinten verschwindender Fließtext (siehe StarWars) eine Aufzählung von knapp einhundert Glaubensgemeinschaften. Das Publikum darf selbst entscheiden, ob das eine wünschenswerte Entwicklung nach einem Märtyrer-Tod ist oder völlig verrückter und von Jesus entkoppelter Irrsinn.

Der aus dem Döbelner Theater weiter genutzte Vorhang wird virtuos eingesetzt. Einerseits als direktes Zitat: Als Jesus stirbt, „da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei.“ (Matthäus 27,51). Andererseits als Projektionsfläche, um der Inszenierung mehr Sichtbarkeit zu schenken. Denn so ikonographisch eine Passionsaufführung in einer Kirche auch sein mag, für das Publikum hält sie vor allem Tücken bereit. Im gesamten Zuschauerraum gibt es vielleicht zwanzig Sitzplätze, von denen man tatsächlich das Geschehen auf der Bühne sehen kann. Da erweist es sich als echter Service am Theatergast, die Darsteller von der Empore aus singen und auf einer Leiter herumturnen zu lassen. Und eben Action auf den Vorhang zu doppeln. Und Bilder aus den Köpfen von Petrus und Maria Magdalena sichtbar zu machen.

Den breiten Mittelgang zwischen den Zuschauerplätzen mitzubespielen, ist eine kluge Strategie, der beengten Bühne im Kirchenschiff Raum abzutrotzen und macht das Publikum plötzlich zu Kirchgängern, an denen Pfarrer und Ministranten vorbeiziehend einen Gottesdienst feiern.

Akustisch ist eine Kirche ja eher ein Resonanzraum, in dem sich Orgelklänge und die Stimmen der Gemeinde zu einem großen Klangteppich vereinen. José Luis Gutiérrez gelingt das Unmögliche: den einzelnen Stimmen, der Band und dem reduzierten Orchester jeweils größtmöglichen Raum zu geben und deren Zusammenklang auszubalancieren. Manche hohen Töne der stimmgewaltigen Hauptfiguren Jesus/Yannik Gräf und Judas/Marco Toth geraten etwas schrill, aber so will es Andrew Lloyd Webber. 1971, als es noch keinerlei Musicaltradition gab und ein Zusammenspiel zwischen Rockband und klassischem Orchester Aufsehen erregte, war das Überzogene, das Schrille, die überzeichnete Version ein Mittel, um einer völlig neue Musikgattung Gehör zu verschaffen.

Die Kostüme von Nina Reichmann funktionieren wunderbar. Mit dezenten Mitteln unterstreichen sie Facetten ihrer Träger. Jesus in blauem Leinen (souverän, distanziert), Maria Magdalena mit pinkem Kopftuch (sanft, beruhigend), Judas in schwarzem Fransenglitzer (keine Nebenrolle!).

Bis hierher ein vergnüglicher Abend voller Schwung, Buntheit und Hingabe des Ensembles. Wer mehr als Unterhaltung will, dem sei das Programmheft empfohlen: Der Regisseur gibt im Interview einige Überlegungen preis. Der Knaller aber kommt zum Schluss! Auf der letzten Seite wird Amos Oz zitiert. Er beschäftigt sich schon länger mit der Frage, welche anderen Lesarten der Evangelien es geben könnte. Ob Judas nicht der Verräter sondern der Königsmacher sei. Ob Judas als Freund und Bruder von Jesus diesem zu mehr PR verhilft und erst damit eine Weltreligion begründet. Und wenn man diesem Gedanken folgen will, erhält das Showmaster-Outfit des Judas und sein selbstbewusstes Auftreten einen Sinn.

Jesus Christ Superstar läuft noch bis zum 23.04.2023.

Foto oben: Rockstar Jesus (Yannik Gräf) beim Stage diving / Bildrechte: Mittelsächsisches Theater, Detlev Müller

Judas (Marco Toth) feiert seinen Welterfolg.
Bildrechte: Mittelsächsisches Theater, Detlev Müller